Erschienen am: 20.09.2001 in der Basler Zeitung
Ein Festival, das alles, ausser gewöhnlich sein will 

zum Projekt
Mit der Uraufführung der Komposition «Gränzgang» eröffnete das WWB-Orchester (Wohn- und Werkstättenzentrum Basel) am Montag das Kulturfestival «Wildwuchs» im Museum Klingental. Bis zum kommenden Wochenende soll er spriessen, der Wildwuchs in und ums Kasernenareal und Begegnungen und Erlebnisse aller Art zu Tage fördern.
Organisiert von «Zmittsdrin» und «Die Anderen», zwei Vereinen, welche die Zusammenarbeit von Kunstschaffenden und Behinderten ermöglichen, ist Wildwuchs ein buntes Kaleidoskop von kleinen und grossen Abenteuern theatralischer, musikalischer, tänzerischer oder filmischer Natur, welche allesamt einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden sollen.
«Alles ausser gewöhnlich», will es sein, das neue Festival: Im Rollstuhl durch die Geisterbahn oder auf der Rollstuhl-Schaukel hoch in die Luft, essen und trinken im Gastrozelt von Al Dente, geniessen an der KlangBar und sinnieren im Kunst-Wohnzimmer der Fehlerpfleger, im Ver-Filz-Nest eine eigene Filzkugel herstellen oder eigene Töne an Peter Fürsts Wildwuchs-Soundinstallation produzieren und dabei unerwartet Bekanntschaften schliessen.
Dass die Zusammenarbeit engagiertes Schaffen hervorbringt, zeigte das WWB-Orchester bereits am Montag. Zusammengesetzt aus nicht behinderten und behinderten Musikern oder aus Mitarbeitern mit oder ohne Rente, spielte es einen Abend lang Kompositionen mit vielen kleinen und grossen Höhepunkten. «Keine Kopfsache, sondern ein Gefühl» sei entstanden, beschreibt der Komponist Valentin Vecellio die Musik, an deren Uraufführung er sich auch aktiv beteiligte.

Musikprojekt «Klangserve»
Zustande gekommen ist dieses Gemeinschaftswerk innerhalb des Projekts «Klangserve», einem Angebot der Veranstaltung europäischer Musikmonat. «Der Abend beginnt aus unserer vertrauten Musikumgebung heraus und überquert dann die Grenze zum ersten Klangexperiment», erklärten Annerose und Fritz Krey, die Leiter der Formation. Mit dieser Vorgehensweise lässt sich auch der Name Gränzgang erklären. «Es soll ablesbar sein, dass unser Repertoire und damit unsere vielfältigen Vorlieben bei Klassik, Folk, Pop, Volksmusik etc. liegen.»
Seit August fanden jede Woche Proben statt. Dabei ging es nicht nur darum, eine Komposition kennen zu lernen und zu erarbeiten, sondern vor allem Möglichkeiten des Musizierens zu erproben und aufeinander zu hören. Das Eröffnungspublikum zeigte sich begeistert ob der Improvisationen, die viel Engagement und musikalisches Können bewiesen.

Unentdeckte Fähigkeiten
Auf eine abwechslungsreiche Woche kann man sich freuen und auf ein Programm, bei dem auch anspruchsvolle Kulturliebhaber vollends auf ihre Kosten kommen: Die Vorstellungen des Theater Hora aus Zürich mit ihrer neuen Produktion «Die Lust am Scheitern» zum Beispiel (am 21. und 22. September). Ziel der Gruppe ist, die unentdeckten künstlerischen Fähigkeiten von geistig behinderten Menschen zu förden und der Öffentlichkeit bekannt zu machen.
Jede Vorstellung soll eine Improvisation in Raum, Zeit, Sound und Bewegung werden - und wer die Fülle und Einzigartigkeit vollends auskosten will, sieht am besten alle drei Hora- Vorstellungen - oder zumindest zwei zum Eintrittspreis von einer.
Oder das Tanzprojekt «Hallo Julia» (am 22. und 23. September) ein offener Workshop mit einer sechsköpfigen Gruppe aus behinderten und nicht behinderten Tänzerinnen und Tänzer, Musikerinnen und Musiker. Ein ganz spezielles Erlebnis versprechen die unverschämten Texte des preisgekrönten geistig behinderten Dichters Georg Paulmichl, vorgetragen durch den Schauspieler Hubert Kronlacher (23. September): «Wenns keine Feuerwehr gäbe, wäre die Welt kahl und leer.» Lesung und Ausstellung des Malers und Dichters werden vom Verein Seneparla Basel getragen.

Brücken schlagen
Das Festival will Brücken schlagen zwischen mehr und weniger normalen Menschen und in den kostenlosen Workshops sollen Behinderte auch mal Nichtbehinderten etwas beibringen können, so Dominik Labhardt, einer der Organisatoren des Festivals. Die Wildwuchs-Angebote wollen zum Feiern anregen, zu neuen Sichtweisen und gedanklichen Höhenflügen inspirieren. Schön wäre, wenn der Funken überspringen würde und Wildwuchs einen festen Platz in Baslers Kulturlandschaft findet.

 Sabrina Giger
© 2001 National Zeitung und Basler Nachrichten AG

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