Baslerzeitung vom 5.9.2003, Basel Kultur
Die Fehlerpfleger: Eine Workshop-Ausstellung im Unternehmen Mitte
Von den einbrechenden Grenzen
ungekürzte Version von Annemarie Monteil
Eine Raumkapsel ist gelandet und bringt spannende Botschaften von einem Planeten, den wir (zu) wenig kennen. Er ist zu erforschen in der Ausstellung der Fehlerpfleger, einer Gruppe von Menschen mit einer Behinderung aus der Kreativwerkstatt des Bürgerspitals Basel. Sie bauten eine phantastische Welt auf im Unternehmen Mitte. Für die in langer Arbeit konstruierte Raumkapsel liessen sie sich anregen vom Ort: das Unternehmen Mitte definiert sich als Raumschiff mitten in der Stadt. Die polygonale Struktur ist raffiniert verkabelt und dient zugleich als Bildschirm für die Fotografien von Tobias Eisenhut: In eigenwilligen Ausschnitten filtert er aus dem Alltäglichen fabelhafte Konstellationen. In Walter Schads Farbzeichnungen werden Weltraumfotos zu Zeichen. Die über hundert handgrossen Figuren von Pietro Sassi sind halb kuriose Irdische, halb Ausserirdische. Dass Tram und Bus, Bahn und Telefonkabine das Auge erfreuen, beweisen Pius Gürtlers Abfolgen: Knallbunt ist unsere Welt, das ist schön. Indes zeigt Charles Hermann in einem dichten Aquarell, wie der Glaube vor der einbrechenden Apokalypse Rettung sein kann.
All dies gibt nur einen kleinen Einblick in die Fülle von Bildern, Installationen, Videos, in Arbeiten, die uns überraschend direkt angehen. Die Fehlerpfleger scheinen in ihrer geschützten Werkstatt oft mehr von unserer Welt zu be-greifen als wir aktiv darin Wirbelnden. Vielleicht weil sie einst Maurer, Gärtner, Verkäufer und so fort sich in diese Welt nicht integrieren konnten, vermögen sie ihrer auf eigene Weise habhaft zu werden. Wie wahrhaftig und intensiv dies geschieht, erfährt man in Gesprächen, und dazu bietet die Ausstellung schönste Gelegenheit: Die Fehlerpfleger sind anwesend, verändern die Präsentation, machen den Ort zum Atelier, manche erklären ihre Werke und sind ungemein kommunikationsbegabt. Einen speziellen Zugang bietet Thomas Brunnschweiler mit dem zur Ausstellung erschienenen Büchlein Am Anfang war das Wort - am Ende: Woerterbuch. Der Grenzgänger der Kreativwerkstatt schrieb 27 Anagramme, das heisst Sätze, die durch Umstellung derselben Buchstaben neue Sätze ergeben. Die Ungleichheit des Gleichen ist faszinierend, mal erschreckend, mal heiter. Was der Germanist Brunnschweiler kunstvoll reflektiert, leuchtet in bildhafter Weise in den Arbeiten der anderen Fehlerpfleger auf: Bekanntes wird umgedreht, verrätselt, verspiegelt und zu neuem Leben und Sinn gebracht.
Von den scheinbar Behinderten und ihren behutsamen Betreuern ist Befreiendes zu lernen: das Überschreiten konventioneller Grenzen zwischen behindert und nicht behindert, zwischen Spiel und tiefem Ernst, freundlichem Zufall und gestalteter Form, zwischen aussen und innen, Fehlerpflege und Arbeitslust. Oder wie es Brunnschweiler anagrammiert: Das Einschweben der Grenzen in der Mitte Schwebender regiert Tendenz im Dasein.
Annemarie Monteil
Unternehmen Mitte, Gerbergasse 30, 4.-10.9.: Mo-Fr.10-16.
13.-19.9.: Mo-Fr 12-19, Sa/So 11-17.
Baslerzeitung vom 5.9.2003, Basel Kultur
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